Mord an einer Arbeiterin zeigt erneut die strukturelle Gewalt in Indiens Fabriken
Von Gisela Burkhart, FEMNET
Gewalt gegen Frauen ist in Indiens Fabriken bitterer Alltag. Vor allem junge Frauen sind den Übergriffen ihrer Vorgesetzten oft hilflos ausgeliefert. Jetzt wirft ein besonders grausamer Fall erneut ein Schlaglicht auf die Abhängigkeitsverhältnisse in den Fabriken: Im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu wurde die 21-jährige Arbeiterin Jeyasre am 5. Januar 2021 nach tagelanger Suche von ihren Eltern tot aufgefunden – ermordet von ihrem Vorgesetzten. Der Mann hat die Tat gestanden und sitzt jetzt im Gefängnis.
Die beiden arbeiteten in der Natchi-Fabrik, einer von vielen Fabriken in Tamil Nadu, die für die ganze Welt produzieren – oft unter unmenschlichen Bedingungen. Lange Arbeitszeiten, Hungerlöhne, viele von ihnen sind junge Wanderarbeiterinnen aus den nördlichen Provinzen Indiens. Sie leben auf dem Werksgelände in einem Wohnheim. Jeyasre hatte es etwas besser, denn sie lebte bei ihren Eltern.
Jeyasre war eine ehrgeizige junge Frau, die schon seit drei Jahren in der Fabrik arbeitete. Sie studierte vormittags, um ihren Master-Abschluss zu machen, und arbeitete von nachmittags bis abends, um die Kosten zu bezahlen. Sie gehörte der unberührbaren Kaste, den Dalits, an, während ihr Vorgesetzter einer höheren Kaste angehörte. Dalits sind immer wieder Opfer von Ausbeutung und Gewalt.
Um junge Frauen in den Fabriken zu schützen, schreibt das Gesetz vor, dass es ein Komitee gegen sexuelle Belästigung (ICC) geben muss. Ein ICC muss unabhängig sein und sollte Beschwerden entgegennehmen. Doch diese Komitees bestehen entweder nur auf dem Papier oder funktionieren nicht. FEMNETs Partner SAVE hat in dieser Fabrik Schulungen durchgeführt, stellt aber fest, dass sich die Fabrikleitung nicht genug darum kümmert, dass das Komitee wirklich funktioniert.
Natchi Apparels ist Teil der bekannten und großen Eastman-Gruppe – über 1500 Mitarbeiter*innen arbeiten hier in zwei Schichten. Auch H&M und Lidl lassen bei Natchi Apparel produzieren. Beide Unternehmen dulden in ihren Verhaltenskodizes keine Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, aber dieser Fall erweckt den Verdacht, dass beide Unternehmen ihre Sorgfaltspflicht gegenüber ihren Produzenten vernachlässigt haben. Nicht nur ihr Verhaltenskodex verlangt, dass ihre Produzenten Null-Toleranz gegenüber sexueller Gewalt praktizieren, sondern auch die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verpflichten sie dazu.
In einem ersten Schritt fordern die lokale Gewerkschaft TTCU und die sie unterstützende Asia Floor Wage Alliance (AFWA) sowie SAVE, FEMNET und die Clean Clothes Campaign eine unabhängige Untersuchung des Mordes und eine angemessene Entschädigung für die Familie.
Darüber hinaus müssen sich aber auch die Unternehmen vor Ort, also der Eastman-Konzern sowie seine Abnehmer Lidl und H&M, schriftlich verpflichten, Schritte zu unternehmen, um Null-Toleranz für geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz praktisch umzusetzen. Zum Beispiel muss das ICC-Beschwerdekomitee tatsächlich funktionieren, d.h. Beschwerden annehmen – Vorgesetzte, die sexuell belästigen oder Gewalt anwenden, müssen entlassen werden. Nur wenn sich das Top-Management schriftlich dazu verpflichtet und die einkaufenden Unternehmen die Umsetzung regelmäßig kontrollieren, kann sich langfristig etwas ändern.
FEMNET hat beide Unternehmen angeschrieben und gefragt, welche Schritte sie unternehmen werden. Während sich H&M ebenfalls für eine unabhängige Untersuchung ausspricht, hat Lidl nur mit allgemeinen Phrasen geantwortet. Keines der beiden Unternehmen hat bisher irgendwelche Maßnahmen ergriffen.